Ein Lexikon auf zwei Beinen

Ob Könige, Künstler oder Kinder: Georgina Portillo Garcia führt Gäste über das weitläufige Gelände der Autostadt. Die Tourguide mit mexikanischen Wurzeln ist seit 21 Jahren im Team und hat schon so manches erlebt. Ein Besuch.

TEXT: BEATRIX GERSTBERGER
FOTOGRAFIE: JANINA SNATZKE
17.12.2021

Wie kommt man von Mexiko City nach Wolfsburg? Indem man einen Umweg über die University of Texas in Austin macht, sich dort in einen Wolfsburger verliebt, ihn mit nach Mexiko City nimmt, der Wolfsburger aber angesichts von Megacity und ständigem Chaos sagt: „Das ist nichts für mich, ich will zurück ins ruhige Niedersachsen.” So landete Georgina Portillo Garcia 1996 in Wolfsburg. Drei Jahre später bewarb sie sich als eine der ersten Tourguides für die Autostadt und führt seit April 2000 als Kommunikations- und Presseguide Autoabholerinnen und -abholer, Hochzeitsgesellschaften, Kunstschaffende, Presseleute, Stars, Vorstände und ausländische Gäste über das 28 Hektar große Freigelände und durch die Gebäude.

„Willkommen, liebe Gäste!”, ruft sie, als sie ganz plötzlich in ihrem blauen Autostadt-Kostüm auf der Piazza zwischen fünf Familien auftaucht. Sie alle holen heute ihr sehnlichst erwartetes Auto ab. „Welche Farbe hat es denn?”, fragt Georgina Portillo Garcia. „Rot”, tönt es zurück, und schon ist sie mittendrin in ihrer Führung. Sie erklärt den Gitterglobus aus Aluminium, der über den Köpfen der Gäste hängt, die „Exosphäre” und das dazugehörige Werk „World Processor”, ein Globenfeld, eingelassen im Boden der Piazza

„Ich brauche nicht nur eine starke Stimme, starke Beine und starke Füße. Aufgrund der Pandemie sind die Menschen angespannter, da ist emotionale Intelligenz gefragt.”

GEORGINA PORTILLO GARCIA, TOURGUIDE

Das Team ist international
Georgina Portillo Garcia macht Führungen auf Deutsch, Englisch und Spanisch. Rund 14.000 Schritte läuft sie ungefähr an einem Tag, aber die eigentliche Arbeit beginnt schon am Vormittag, wenn sie die Räume der Tourguides betritt. Zu dem internationalen Team gehören 30 Mitarbeitende aus China, Deutschland, Frankreich, Marokko, Mexiko, Norwegen und der Türkei, darunter nur drei Männer.

Georgina Portillo Garcia setzt sich an einen der Computer, öffnet das Intranet des Volkswagen Konzerns und überlegt, was sie sich heute anlesen will. „Ich muss breit gefächert über alles Bescheid wissen und auf alle potenziellen Fragen vorbereitet sein”, sagt sie. „Für meine ersten Führungen im Jahr 2000, als vieles hier noch eine Baustelle war, habe ich einen dicken Reader auswendig lernen müssen”, erinnert sie sich. „Und dann hatte ich eine Testführung, bei der bewertet wurde, wie meine Körperhaltung ist, meine Stimme, der Umgang mit kritischen Fragen, die Freundlichkeit, mein Wissen. Das war aufregend, aber ich habe bestanden.”

Georgina Portillo Garcia kommt bereits in ihrer Arbeitskleidung, dem Autostadt-Kostüm, vorgefahren. Ihren E-Wagen lädt sie auf dem Parkplatz.

Gute Vorbereitung ist das A und O
An diesem Morgen klickt sie sich durch Themenfelder wie neue Mobilität, Elektrifizierung, Digitalisierung, autonomes Fahren, alternative Antriebe und die Geschichte des Automobils. Sie liest zudem tagesaktuelle Pressemeldungen aus dem Konzern. Währenddessen richten sich nebenan zwei Kolleginnen die Haare. „Auch das ist wichtig”, sagt Georgina Portillo Garcia, „wie wir auftreten und uns präsentieren. Wir sind ja schließlich so etwas wie die Visitenkarte der Autostadt.” Auf jeden Fall ist sie eine Visitenkarte, die gerne gebucht wird für Führungen über Kunst, Architektur und Landschaft. Das sind die Lieblingsthemen der studierten Anthropologin, die in Mexiko City als Tourguide im Nationalmuseum für Anthropologie durch die Schätze der großen südamerikanischen Kulturen führte und gleichzeitig Assistentin eines Professors im Institut für Soziologie war.

Nun steht sie im Premium Clubhouse und erklärt, dass die Form des Pavillons einem Teil der Rennstrecke von Le Mans nachempfunden wurde. Sie deutet auf die schwebende Lichtinstallation von Anselm Reyle und referiert lässig über die Lackzusammensetzung des vollständig verspiegelten Bugatti Veyron sowie die Bauweise des Motors. Ganz nebenbei beantwortet sie im Laufen von Pavillon zu Pavillon Fragen über den Speiseplan der Restaurants, über Batterierecycling und die Blumen, die vor dem Škoda Pavillon gepflanzt sind.

Pandemie verändert den Arbeitsalltag
Georgina Portillo Garcia ist eine Art sprechende Wikipedia auf zwei Beinen. Was auch immer einer der Gäste fragt, sie hat eine Antwort. Und gefragt haben in den vergangenen 21 Jahren viele, darunter zahlreiche Prominente. Sie begleitete zum Beispiel Spaniens König Juan Carlos und Königin Sofia sowie den mexikanischen Präsidenten. „Er wollte eigentlich nur drei Minuten bleiben, doch dann wurde daraus eine halbe Stunde, weil er so begeistert war”, berichtet sie. In letzter Zeit begleitet sie viele Influencer und Youtuber, aber auch US-amerikanische Künstler wie Tom Sachs, dessen Ausstellung „Space Program” gerade in Hamburg läuft. „Seine Mars-Sneaker haben mich damals besonders beeindruckt”, sagt sie.

Das Coronavirus hat die Führungen allerdings verändert, findet sie. „Ich muss die ganze Zeit Maske tragen. Es ist anstrengend, mit so viel Luft nach vorne zu sprechen, auch wenn wir die Gruppen schon von 20 auf zehn Personen reduziert haben.” Zuhause macht sie daher Stimmübungen und Yoga. „Ich brauche nicht nur eine starke Stimme, starke Beine und starke Füße. Aufgrund der Pandemie sind die Menschen angespannter, da ist emotionale Intelligenz gefragt.” Für den richtigen Umgang mit dem eigenen Stress und dem Stress der anderen biete die Autostadt Seminare an, etwa zu Konfliktlösungstechniken, Resilienz und autogenem Training. „Es wird darauf geachtet, dass es uns gut geht”, sagt sie.

Dass es den Gästen gut geht, das ist wiederum Teil ihrer Aufgaben. Und dabei hat sie schon einiges erlebt. Besonders gern erinnert sie sich etwa an einen ganz überraschenden Heiratsantrag mit, der mitten im Dufttunnel während ihrer Führung gemacht wurde. Und ein anderes Mal führte sie einen blinden Jungen. Seine Mutter hatte vor der Tour darum gebeten, dass er alle Autos anfassen darf. „Das hat mich sehr berührt, dieses begeisterte Kind zu sehen. Bei ihm, aber auch bei allen anderen Besucherinnen und Besuchern stelle ich mir vor, dass die Autostadt mein persönliches Zuhause ist und die Menschen meine Gäste sind. Sie sollen sich wohlfühlen. Und ich zeige ihnen jeden Tag aufs Neue, wie schön es in meinem Zuhause ist.”

Meine fünf Lieblingsorte in der Autostadt

1.

Die Autostadt Türme

Besonders mag ich die beiden Türme, wenn sie nachts beleuchtet werden. Und mich fasziniert die Logistik, die dahintersteckt: Hier werden pro Tag durchschnittlich 500 Wagen aus vollautomatischen Hochregalen ausgeliefert. Ich erzähle auf meinen Touren gerne, dass es das schnellste automatische Parksystem der Welt ist.

2.

Die fünfte Etage des ZeitHauses

In der Sammlung des Automobilmuseums stehen mehr als 260 Fahrzeuge von gut 60 verschiedenen Marken. In der fünften Etage stehen die, die mich persönlich immer wieder begeistern: der Bugatti 57 C, der erste Käfer und der Porsche 911 Turbo

3.

Die Piazza

Hier muss jeder durch und hier hole ich in der Regel meine Gäste ab. Hier sehe ich ihre Aufregung, wenn sie ihr neues Auto endlich bekommen. Und hier kann ich jeden Tag in viele neue Gesichter blicken

4.

Level Green

Diese Nachhaltigkeitsausstellung wurde schon mehrfach ausgezeichnet. Man kann sich hier sehr gut, auch interaktiv, mit dem Klimawandel und dem ganz persönlichen Verbrauch von Ressourcen auseinandersetzen.

5.

Zwischen Audi Pavillon und Autotürmen

Dort gibt es eine Ecke, die ich besonders liebe. Es wachsen Hortensien und alte Apfelbäume. Es ist ein Platz, an dem man zur Ruhe kommt.