„Ein großes Repertoire“

Piazza, Landschaft, Familie – der Architekt Prof. Gunter Henn spricht im Interview über seine Vorbilder bei der Gestaltung der Autostadt, und warum jeder Mensch solche Bezugnahmen versteht.

TEXT: FLORIAN SIEVERS
FOTOGRAFIE: HENN GMBH, JEWGENI ROPPEL
27.09.2022

Herr Henn, Ihre architektonische Gestaltung der Autostadt folgt dem Paradigma „Struktur und Ereignis“. Was verstehen Sie darunter?

Gunter Henn: Das bedeutet, dass eine größere Struktur den Rahmen bildet, in dem dann Ereignisse stattfinden. Diese Ereignisse können sich zwar sehr voneinander unterscheiden, aber sie sind immer eingebunden in eine schnell wahrnehmbare Ordnung. Die Struktur lässt den Ereignissen also ihre Freiheiten – aber sie ist auch streng und darf nicht verlassen werden.

Was bedeutet das konkret?

Im Fall der Autostadt gibt es zwei wichtige Strukturen. Die erste ist die Hauptachse, die aus der Stadt Wolfsburg diagonal quer über das Gelände der Autostadt bis zum nördlich gelegenen Schloss verläuft. Sie ist eine wichtige Orientierungslinie und bindet die Autostadt in die Umgebung ein. Die zweite Struktur ist die räumliche Gestaltung der Autostadt selber. Hier spannen die umgebenden Gebäude wie das KonzernForum, das ZeitHaus, das Hotel The Ritz-Carlton, Wolfsburg oder die Türme den Rahmen, in dem dann die kleineren Markenpavillons als Ereignisse stattfinden können.

Auf welche Vorbilder beziehen Sie sich mit diesem Ansatz?

Ein Vorbild war der Grundriss von New York, der ähnlich funktioniert: eine strenge Struktur, in diesem Fall aus quadratisch angeordneten Streets und Avenues, die ebenfalls von einer Diagonalen durchquert wird. Auch diese Struktur beherbergt sehr individuelle Ereignisse, nämlich die unterschiedliche Bebauung der einzelnen Blocks. Außerdem haben wir uns bei der Planung weltweit Inszenierungen angesehen, bei denen das Publikum aktiv mit eingezogen wird, etwa Freizeitparks oder große Ausstellungsgelände. Wir wollten herausfinden, welche Räume da gefragt sind, welche Bewegungen zu erwarten sind.

Vor dem Betreten der Autostadt durchqueren Besucherinnen und Besucher die überdachte Piazza des KonzernForums, um die sich Installationen und Innenräume gruppieren. Inwiefern verweist dieser Name auf die Piazze italienischer Renaissance-Städte, wo ja auch Funktions- und Repräsentationsgebäude rings um einen offenen Marktplatz stehen?

Hier war das Vorbild tatsächlich die Agora, das Forum, der Marktplatz, die Piazza – also öffentliche Plätze, auf denen sich Gesellschaften und Gemeinschaften versammeln. Die Piazza des KonzernForums liegt genau auf der erwähnten Hauptachse und öffnet sich auf der einen Seite zur Stadt und auf der anderen zum Gelände der Autostadt.

Autostadt KonzernForum
Die Hauptachse verbindet die Stadt Wolfsburg mit der Autostadt.

An welches Vorbild lehnt sich die Anordnung der acht Markenpavillons auf diesem Gelände an?

Viele Besucherinnen und Besucher der Autostadt kommen aus Städten oder Kleinstädten, die sie bei einem Besuch nicht einfach noch mal in klein erleben sollten. Das kennen sie ja schließlich schon. Stattdessen ist das Grundmuster eine Landschaft – mit Hügeln und Mulden, Fjorden und Baumgruppen, in die die Markenpavillons eingebettet sind.

Wie finden sich Besucherinnen und Besucher in der Autostadt zurecht?

Wer aus dem KonzernForum heraustritt, kann alle Markenpavillons auf einen Blick sehen, die alle in derselben Distanz voneinander stehen. Die großen Marken Volkswagen und Audi stehen dabei in der zweiten Reihe, die jüngeren Marken sind im Vordergrund. Und jeder dieser Markenpavillons hat eine sehr individuelle skulpturale Architektur, die sich jeweils stark voneinander unterscheidet.

Wie haben Sie die jeweiligen Marken in die architektonische Gestaltung der Markenpavillons übersetzt?

Im Vorfeld gab es umfangreiche Gespräche mit Vertreterinnen und Vertretern der Marken. Sie sollten dabei unter anderem die räumlich wahrnehmbaren und sinnlichen Werte und Emotionen ihrer Marken beschreiben, ohne direkt auf die visuelle Gestaltung des Logos oder der Fahrzeuge zu verweisen. Das hat dann im Dialog zu diesen unterschiedlichen Pavillons geführt. Das Ergebnis ist eine Familie, bei der die Kinder der Mutter zwar ähnlich, aber zugleich sehr individuell sind. Manche sind laut, manche eher zurückhaltend.

Die Markenpavillons sind umgeben von Gebäuden, die teils funktionale Aufgaben haben, teils der Freizeit dienen. Welchen Vorbildern folgt die Gestaltung dieser rahmengebenden Gebäude?

Links des KonzernForums setzt das ZeitHaus das Begriffspaar digital-analog räumlich um. Digital ist dabei der aufrechte Setzkasten, in dem die Fahrzeuge zeitlich geordnet sind. Und in dem analogen bauchigen Körper finden sich die Erlebnisse, die man mit diesen Fahrzeugen hat. Nördlich davon ist das Hotel The Ritz-Carlton, Wolfsburg eine konkave Geste der Gastfreundlichkeit. Die Türme stehen für die Produktion und die Vielfalt der Fahrzeuge. Das KundenCenter ist ein großes Zelt, das einen Marktplatz überspannt und wo der Kunde sein Fahrzeug in Empfang nimmt.

„Es ist mir sehr wichtig, dass die Besucherin oder der Besucher nicht nur rezipieren und zuschauen wie im Theater, sondern dass sie selbst Teil der Inszenierung werden.“

Prof. Gunter Henn

Insgesamt gibt es acht Markenpavillons in der Autostadt. Hier zu sehen: Der Volkswagen Pavillon.
Das ZeitHaus setzt das Begriffspaar digital-analog räumlich um. Der bauchige Körper steht für analog...
...der gläserne Setzkasten, in dem die Fahrzeuge aus der Volkswagen Welt zeitlich geordnet sind, steht für den Begriff digital.
Der Skoda Pavillon: Er setzt die Werte und Emotionen der Marke architektonisch um.
Der Pavillon der Nutzfahrzeuge.
Die Markenpavillons bilden eine Art kleine Familie in der Autostadt. Hier zu sehen ist der Audi Pavillon.
Blick auf den futuristischen Porsche Pavillon.
Er grenzt direkt an das Wasser an und spendet Schatten an sonnigen Tagen.
Mit seinen exzentrischen Windungen ist er ein ganz besonderer Hingucker.

Wieso sind Besucherinnen und Besucher in dieser Landschaft mit ihren individuellen Gebäuden vor allem zu Fuß unterwegs, wenn es doch um Automobilität geht?

Das ist quasi ein anderes Bühnenbild für die Inszenierung. Denn auch hier wieder sollte sich das Erleben vom Alltag der Menschen mit Autos in der Stadt unterscheiden. Wer zu Fuß durch eine Landschaft geht, hat eine andere Aufmerksamkeit. Das nimmt die Hektik des Alltags raus, man kann neugierig die unterschiedlichen Markenwelten erkunden. Es ist mir sehr wichtig, dass die Besucherin oder der Besucher nicht nur rezipieren und zuschauen wie im Theater, sondern dass sie selbst Teil der Inszenierung werden. Mir fällt immer wieder auf, wie viel sich Menschen in der Autostadt gegenseitig fotografieren. Sie, die Marken und das gesamte Unternehmen gestalten gemeinsam diese Inszenierung. Dabei vermittelt die Autostadt insgesamt die Unternehmenswerte der Volkswagen AG, nämlich eine Demokratisierung der Mobilität, eine Mobilität für alle und in Zukunft auch eine digitale Mobilität..

Piazza, Landschaft, Familie – mit welchem Ziel arbeitet Architektur mit solchen Vorbildern?

Architektur ist so alt wie die Menschheit, und innerhalb dieses Felds hat sich ein großes Repertoire an Vorbildern angesammelt, von der Antike über die Renaissance bis zur Neuzeit. Da geht es um Proportion, Materialität, Gestaltungselemente, die geprägt haben, wie wir Gebäude empfinden, etwa als abweisend oder als einladend. Dazu kommen Bezugnahmen auf andere Felder wie Natur oder Technik. In der Autostadt drücken Assoziationen und Sinngebungen das aus, was in den Gebäuden geschieht. Und weil jeder Mensch durch das tägliche Leben und Erleben in der Wahrnehmung von Architektur geschult ist, nimmt er oder sie diese Vorbilder und Assoziationen wahr.


Zur Person

Prof. Gunter Henn, Jahrgang 1947, ist Gründer von HENN Architekten, das heute Büros in München, Berlin und Peking unterhält. International bekannt geworden ist er mit Forschungs-, Produktions- und Verwaltungsgebäuden. Henn hat am MIT in Cambridge sowie an der TU Dresden gelehrt. Schon sein Vater war erfolgreicher Architekt.

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